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"Das Land kann es sich nicht leisten, auf personelle Ressourcen zu verzichten"
Interview mit Aicha Bah-Diallo zur Bedeutung regionaler interkultureller Netzwerke für die berufliche Integration junger Migrantinnen und Migranten
Die hessenweite Strategie OloV ist mittlerweile mit einer Reihe von Projekten zum Übergang Schule – Beruf verknüpft. Eines davon ist das Projekt "Potenziale nutzen – Regionale interkulturelle Kooperation für die betriebliche Berufsausbildung". Frau Bah-Diallo, worin besteht die Arbeit dieses Projekts?
Das Projekt soll dazu beitragen, die Beteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an der betrieblichen Berufsausbildung zu erhöhen. Im Moment haben diese Jugendlichen größere Schwierigkeiten als Jugendliche ohne Migrationshintergrund, einen Ausbildungsplatz im dualen System zu finden. Sie sind häufiger im Übergangssystem und bleiben häufiger ohne einen Schul- und Berufsabschluss. "Potenziale nutzen" setzt auf die Stärkung regionaler Netzwerke, in die auch Migrantenorganisationen einbezogen werden. Im Rahmen des Projekts arbeiten solche Netzwerke bisher in vier Regionen. Über Workshops lernen sich die Akteure vor Ort kennen und tauschen sich über Rahmenbedingungen und Ziele aus. Dies führt zur Formulierung regionaler Strategien. Dabei sind die Ansatzpunkte der beteiligten Regionen unterschiedlich, der Odenwaldkreis beispielsweise hat sich den Schwerpunkt Elternarbeit gesetzt, um die Beteiligung von Eltern mit Migrationshintergrund an der Berufsorientierung ihrer Kinder zu stärken. Andere Regionen haben andere thematische Schwerpunkte.
Weshalb haben Jugendliche mit Migrationshintergrund auf dem Weg in die Berufsausbildung so viel schlechtere Ausgangsbedingungen?
Sie haben schlechtere Ausgangsbedingungen, weil sie zum einen selten einen Kinderkrippenplatz bekommen, da ihre Mütter in der Regel nicht berufstätig sind. Dadurch beginnen der Kindergarten- und Schulbesuch mit einem Sprachdefizit. Weil Deutsch nicht die Familiensprache ist, kommen sie zu einem späteren Zeitpunkt mit der deutschen Sprache in Kontakt. Dies erschwert den späteren Zugang zum Bildungssystem sowie zu den erwarteten sozialen Kompetenzen. Eine weitere Folge davon ist, dass sie deswegen bei Verlassen der allgemeinbildenden Schule im Vergleich zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund über niedrigere schulische Qualifikationen verfügen, was ihre Aussichten auf eine Ausbildungsstelle schmälert.
Die kulturellen Gewohnheiten und das Rollenverständnis der Geschlechter in vielen Zuwandererfamilien bringen teilweise Einschränkungen mit sich. Hinzu kommt, dass viele Eltern sich davor scheuen, eine Informationsveranstaltung in einer Schule zu besuchen, weil sie nicht gerne in die Schule gehen. Sie kommen eher zu Infoabenden, wenn sie von Bekannten mitgenommen werden. Einige reagieren nicht auf die Elternbriefe und kommen erst zur Schule oder suchen das Gespräch mit dem Lehrer ihrer Kinder, wenn es zu spät ist.
Im deutschen Schulsystem spielt die Unterstützung durch die Eltern eine wichtige Rolle. Sie ist — in Verbindung mit der sozialen Herkunft der Eltern und deren Bildungsniveau — entscheidend für die Chancen, die ein Kind in seiner Schullaufbahn bekommt. Inwiefern ist dies für Eltern und Kinder mit Migrationshintergrund besonders problematisch?
Dies ist wirklich eine Besonderheit des deutschen Schulsystems. Viele Eltern, die selbst in anderen Ländern zur Schule gegangen sind, wissen gar nicht, dass ihre Mithilfe vorausgesetzt wird, sie vertrauen darauf, dass ihr Kind in der Schule alle notwendige Unterstützung bekommt. In den meisten Fällen sind die Eltern nicht in der Lage, die geforderte Unterstützung zu leisten.
Dies gilt auch für die Berufswahl: Die Eltern kennen weder das Schulsystem noch das Berufsausbildungssystem. Sie wissen beispielsweise nicht, dass das Bildungssystem an manchen Stellen durchlässig ist, sodass Abschlüsse auch später noch erworben werden können. Besonders betroffen sind hiervon die Mütter, denn aufgrund traditioneller Rollenzuweisungen in der Herkunftsgesellschaft sind sie meist für die Betreuung der Kinder zuständig. Dies führt insbesondere bei Heiratsmigrantinnen oft dazu, dass die Frauen selbst nur mangelhaft integriert werden, da sie die meiste Zeit zuhause mit den Kindern verbringen. Andererseits bekommen sie als Nichtberufstätige keinen Betreuungsplatz für die Kinder und können so nicht an Sprachkursen teilnehmen. Hierdurch wird ihre marginalisierte Situation noch verstärkt.
Das heißt, eine Förderung dieser Frauen würde indirekt die beruflichen Chancen der Jugendlichen mit Migrationshintergrund verbessern?
Ich halte es für sehr wichtig, bei den Müttern anzusetzen. Integration läuft zum großen Teil über Sprachkenntnisse. Dies ist für Frauen aber nur möglich, wenn ihre Kinder während des Sprachkurses betreut werden. Gleichzeitig erhalten die Kinder so die Chance, vor dem Schuleintritt ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, denn dies ist ein wesentlicher Faktor für den schulischen Erfolg. Kinder, die nur zuhause von ihrer Mutter betreut werden, die kein Deutsch spricht, werden möglicherweise als nicht schulreif zurückgestellt und haben damit von Anfang an einen schlechten Start. Die Chancen dieser Kinder für einen reibungslosen Eintritt in eine Ausbildung sind dann natürlich auch nicht besonders hoch.
Was ist bei der Ansprache von Eltern mit Migrationshintergrund zu beachten?
Die Form der Ansprache ist wichtig. Existierende Angebote, in deren Konzeption und Durchführung viele Ressourcen geflossen sind, werden oft nicht angenommen, weil sie nicht auf die Lebensumstände der Zielgruppe abgestimmt sind. Beispielsweise bewirken Informationsflyer in der Regel wenig. Eine direkte Ansprache über bekannte Institutionen im sozialen Umfeld der Eltern, beispielsweise über die Schule, ist wirkungsvoller. Eltern lassen sich nur motivieren, Angebote anzunehmen, wenn sie über die Bedeutung ihrer Unterstützung für die beruflichen Chancen ihrer Kinder informiert sind. Ein erfolgreiches Modell der Elternansprache ist beispielsweise ein Elterncafé im Kinderhort: Die Eltern kommen nachmittags an einen Ort, den sie bereits kennen, für die Betreuung der Kinder, auch der Geschwisterkinder, ist gesorgt. Solche Angebote können auch Frauen annehmen.
Welche regionalen Aktivitäten haben sich bewährt?
Patenschaftsprojekte funktionieren gut. Auf unserer überregionalen Veranstaltung am 26.01.2013, zu der wir die Vertreterinnen und Vertreter aller beteiligten hessischen Regionen eingeladen haben, wird ein solches Modell — die Bildungslotsen aus dem Wetteraukreis — vorgestellt.
Welchen Beitrag können Migrantenorganisationen für die Sensibilisierung von Zuwanderern leisten?
Vertreterinnen bzw. Vertreter von Migrantenorganisationen und Vereinen sind Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die zwischen den Migrantencommunities und der Mehrheitsgesellschaft eine Vermittlungsrolle übernehmen könnten, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. Die Multiplikator/inn/en müssen geschult und angemessen honoriert werden. Sie sollten schon bei der Planung von Projekten einbezogen werden, da sie die Probleme ihrer Mitglieder am besten kennen und deren Interessen vertreten können.
Lehrkräfte, Vermittlungsfachkräfte und Personalverantwortliche in den Betrieben entscheiden als "Gatekeeper" darüber, ob beispielsweise ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund eine Empfehlung für die weiterführende Schule oder die Chance auf einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz bekommt. Wie können diese Fachkräfte unterstützt werden? Welche Konzepte können die beteiligten Institutionen entwickeln, um Jugendliche mit Migrationshintergrund zu unterstützen?
Es sollte daran gearbeitet werden, das Vertrauen zwischen Eltern und Schule bzw. anderen vergleichbaren Institutionen zu fördern, damit die Eltern ein besseres Verhältnis zu den Institutionen aufbauen können. Die Jugendlichen müssen motiviert und gefördert werden, damit sie den Wert von Bildung erkennen. Sie sollten die Möglichkeit bekommen durch Sprachförderung, Informationstage, gezielte Vorbereitung und Praktika einen Bezug zur Berufswelt zu bekommen. Lehrkräfte könnten intensivere Gespräche mit ihren Schülerinnen und Schülern führen. Das Ausbildungspersonal braucht ein interkulturelles Training, aber auch pädagogische und finanzielle Unterstützung, um die Jugendlichen mit Migrationshintergrund auszubilden.
Elternarbeit ist zwar wichtig, aber auch die Jugendlichen selbst müssen in verstärkter Form direkt erreicht werden. Zudem ist der Aufbau von Strukturen notwendig, um bildungsferne Familien zu erreichen und in die Berufsorientierung ihrer Kinder einzubinden. Migranteneltern sollten lernen, offener mit den Problemen ihrer Kinder umzugehen und sich Hilfe zu holen. Man muss Orte der Begegnung schaffen und ein Vertrauensverhältnis aufbauen.
Welche Chancen bieten die augenblickliche Situation auf dem Ausbildungsmarkt und die öffentliche Diskussion um Fachkräftesicherung?
Die demographische Entwicklung führt jetzt schon dazu, dass Betriebe Schwierigkeiten haben, Ausbildungsstellen zu besetzen. Vor dem Hintergrund des prognostizierten — und bereits jetzt schon spürbaren — Fachkräftemangels ist die Wirtschaft eher bereit, auf Arbeitsmarktreserven zurückzugreifen. Zu diesen zählen auch Menschen mit Migrationshintergrund. Und deren Zahl wächst im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Nach dem aktuellen Mikrozensus haben von den 6,1 Millionen Einwohnern Hessens 1,49 Millionen einen Migrationshintergrund. Tendenz steigend: Bei den unter 6-jährigen sind es bereits 45%. Das heißt, die Betriebe werden nicht mehr darum herumkommen, Jugendliche mit Migrationshintergrund einzustellen, um ihren Fachkräftebedarf zu decken. Das Land kann es sich einfach nicht leisten, auf diese personellen Ressourcen zu verzichten.