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Relevanz der Studien- und Berufsorientierung – auch an Gymnasien!
Bianca Lenz (INBAS GmbH)
Die Förderung des Berufsorientierungsprozesses ist in den hessischen Schulen mit den Bildungsgängen Haupt- und Realschule sowie in Förderschulen spätestens seit der Einführung der OloV-Strategie in 2008 ein Handlungsfeld, in dem stetig gearbeitet und die Angebote für Schülerinnen und Schüler verbessert werden.
In Gymnasien spielt Berufsorientierung bislang eine meist untergeordnete Rolle. Doch auch für Jugendliche, die das Abitur anstreben, ist die Berufs- und Studienorientierung (BSO) ein biographischer Prozess, den sie zwangsläufig durchlaufen, und der für sie u.a. aufgrund der Vielfalt an Optionen an Komplexität gewonnen hat (vgl. Oechsle 2009: 13).
Studienabbruchquoten und Untersuchungsergebnisse, z.B. zu den Interessen von Hochschulberechtigten an Ausbildungsberufen, sprechen dafür, dass auch Schülerinnen und Schüler im Bildungsgang Gymnasium von einer systematischen schulischen BSO profitieren können (vgl. Kracke et al. 2013: 159ff.).
Einbezug der Gymnasien in die regionalen OloV-Strukturen
Die hessischen Gymnasien wurden deshalb mit Beginn des Schuljahres 2012/2013 eingeladen, sich auf das Gütesiegel Berufs- und Studienorientierung zu bewerben. Seitdem sind sie in die OloV-Strategie einbezogen. Offiziell wurde der Einbezug durch die dritte Ausgabe der OloV-Qualitätsstandards im Dezember 2012, in der erstmals Hinweise für "Schulen mit dem Bildungsgang Gymnasium" aufgenommen wurden. Ihre Beteiligung basiert auf Freiwilligkeit.
In einzelnen hessischen Regionen wurden Gymnasien schon seit längerem, teilweise schon seit 2008, in die OloV-Prozesse einbezogen. In anderen Regionen startete der Prozess mit der Veröffentlichung der überarbeiteten OloV-Qualitätsstandards Ende 2012 bzw. im Jahresverlauf 2013. Wie der Einbezug der Gymnasien in die regionalen OloV-Strukturen gestaltet und wie sie in der (Weiter-)Entwicklung ihrer BSO unterstützt werden können, veranschaulicht das folgende Beispiel aus dem Schulamtsbezirk Stadt Wiesbaden und Rheingau-Taunus-Kreis.
Regionales Beispiel: Eigene Strukturen für Gymnasien schaffen?!
Im Schulamtsbezirk des Rheingau-Taunus-Kreises und der Landeshauptstadt Wiesbaden sind die Schulkoordinationen Berufsorientierung (SchuKos) der "OloV-Schulen" in Fachzirkeln organisiert. Als Fachzirkel werden die mehrmals jährlich stattfindenden Treffen des Staatlichen Schulamtes mit den SchuKos und – je nach Themenstellung – weiterer OloV-Akteure sowie ggf. externer Partner, die im Bereich Berufsorientierung aktiv sind, bezeichnet.
Beim Einbezug der Gymnasien in die OloV-Strukturen stellte sich für die Ansprechperson Berufsorientierung beim Staatlichen Schulamt (AP BO) Ende 2012 die Frage, ob für diese ein eigener Fachzirkel gegründet werden sollte oder ob sie sich an den Fachzirkel für die Schulen mit den Bildungsgängen Haupt- und Realschule anschließen sollten. Die AP BO, Birgit Bleser, entschied sich gemeinsam mit der Dezernentin für Gymnasien, einen eigenständigen Fachzirkel für Gymnasien ins Leben zu rufen. Voraussetzung hierfür war die zügige Benennung der SchuKos im Anschluss an eine regionale Dienstversammlung der Gymnasial-Schulleitungen im November 2012, in der erstmals über OloV informiert worden war.
Die erste Informationsveranstaltung für die "frisch" benannten Schulkoordinationen fand im Februar 2013 zunächst noch in der großen Runde mit SchuKos verschiedener Schulformen statt. Hier bestätigte sich, dass es sinnvoll war, eigenständige Strukturen für die Gymnasien zu schaffen, da sich ihr Entwicklungsstand und - vor allem daraus abgeleitet - auch ihre Bedarfe im Bereich BSO von denen anderer Schulformen unterscheiden.
Die Fachzirkel im Schulamtsbezirk Rheingau-Taunus-Kreis/Wiesbaden folgen einer partizipativen Struktur und Arbeitsweise. Im Vordergrund des ersten Fachzirkels der Gymnasien im September 2013 stand eine Bestands- und Bedarfserhebung zur BSO. Ziele des ersten Treffens waren, einen Austausch zwischen den SchuKos zu initiieren und - seitens des Schulamtes - Hinweise über die Unterstützungsbedarfe der Schulen zu identifizieren. Die benannten Bedarfe der Gymnasien werden in den folgenden Treffen nach und nach aufgegriffen. Die Themen werden somit gemeinsam gesetzt, die Häufigkeit der Termine richtet sich nach den Bedarfen. Die Fachzirkel sollen zunächst einmal pro Schulhalbjahr stattfinden. Dazu werden auch hin und wieder Partner eingeladen, die Angebote oder Informationen zur Unterstützung von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in der BSO bieten.
Berufs- und Studienorientierung: Gymnasien haben oft Nachholbedarf
Seitens der Regionalen Koordinationen (ReKos) und Ansprechpersonen BO herrscht weitgehend Konsens darüber, dass der Einbezug der Gymnasien in den OloV-Prozess ein sinnvoller und wichtiger Schritt ist; das ergab der Bericht der ReKos und AP BOs im Juni 2013 (Lenz/Nispel 2013). Berufsorientierung sei im Bildungsgang Gymnasium in den meisten Schulen erst in Ansätzen vorhanden, so die Äußerung vieler AP BOs. Dass es natürlich Ausnahmen gibt, zeigt u.a. die Verleihung des Gütesiegels BSO Hessen an einzelne Gymnasien. Auch in der Literatur wird bestätigt: Lehrkräfte unterstützen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten (noch) nicht ausreichend in ihrem Berufsorientierungsprozess als einem Bestandteil ihrer Lebensplanung (Kracke et al. 2013).
Wichtige Elemente in der BSO sind im Bildungsgang Gymnasium dieselben wie in anderen Schulformen. Dies zeigen Studien, die zentrale Aspekte und Herausforderungen für Abiturientinnen und Abiturienten im Übergangsprozess untersuchen und das veranschaulichen auch die OloV-Standards, die für alle Schulformen gleichermaßen gelten und nur in einzelnen Standards Besonderheiten wie z.B. Kooperation mit Universitäten hervorheben. Was zentrale Handlungsfelder in der BSO für Gymnasien – wie auch andere Schulformen – sind, fassen die folgenden Abschnitte auf Basis verschiedener Untersuchungen zusammen.
1. Herausforderungen für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten im Übergang Schule - Beruf
Jugendliche im Bildungsgang Gymnasium stehen vor denselben Herausforderungen im Übergang Schule - Beruf wie Schülerinnen und Schüler anderer Schulformen. Sie mögen objektiv bessere Startchancen und für ihre Wahl ein paar Jahre mehr Zeit haben als Absolventinnen und Absolventen anderer Schulformen, doch die – noch größere – Vielfalt an Optionen, macht es für die Jugendlichen subjektiv nicht leichter, sich für einen (ersten) Weg zu entscheiden. Die Unsicherheit von Abiturientinnen und Abiturienten hinsichtlich ihrer Entscheidung für ein Studium oder eine Ausbildung sowie über die Fachrichtung hat in den vergangenen Jahren zugenommen (vgl. Knauf/Rosowski 2009: 290).
"Man steht hier so und alle Türen sind so offen noch und man kann sich nicht entscheiden, was soll man denn machen! Bei so 'nem Angebot, da wird man erschlagen und alles könnte falsch sein." (Zitat eines Jugendlichen kurz vor dem Abitur aus Oechsle 2009: 14).
Zentrale Aspekte in der Entscheidungsfindung aus Sicht entwicklungspsychologischer Berufswahltheorien sind für Jugendliche, unabhängig von der von ihnen besuchten Schulform:
- die Bereitschaft, sich aktiv zu engagieren, z.B. durch das gezielte Einholen von Informationen,
- die Zuversicht, den Prozess der Berufs- und Lebenswegplanung erfolgreich zu gestalten und
- die Informiertheit sowie Sicherheit hinsichtlich der eigenen Entscheidungen (vgl. Kracke et al. 2013: 159).
Integrative Berufswahltheorien verweisen darauf, dass Jugendliche im Berufsorientierungsprozess einer Vielzahl von Einflussfaktoren ausgesetzt sind, die sie im Zusammenspiel wechselseitig beeinflussen (Oechsle 2009: 25). Dazu zählen zum einen das soziale Umfeld, vor allem Eltern und Freunde, und zum anderen Institutionen, insbesondere die Schule und – eher eingeschränkt – Angebote der Agentur für Arbeit (Knauf/Rosowski 2009: 304ff.).
2. Lotsenfunktion der Schule im Berufs- und Studienorientierungsprozess
Junge Erwachsene gaben in einer Befragung vier Jahre nach ihrem Abitur Gymnasiastinnen und Gymnasiasten u.a. den Rat sich in der Schulzeit frühzeitiger und umfassender zu informieren, Uni-Besuche zu realisieren, das Praktikum zielgerichtet auszuwählen und Beratungsangebote, z.B. von der Agentur für Arbeit, wahrzunehmen (Knauf/Rosowski 2009: 317ff.).
"Nicht faul sein […]. Das Praktikum in der Zwölf schon bewusst auswählen und kein Pflichtpraktikum absolvieren." (Zitat eines Jugendlichen aus Knauf/Rosowski 2009: 317)
Die Schule kann eine Lotsenfunktion für Schülerinnen und Schüler im Berufsorientierungsprozess einnehmen, indem sie die Jugendlichen immer wieder und auf verschiedene Art und Weise daran erinnert, sich mit ihrem Berufswahlprozess und ihrer Lebensplanung auseinanderzusetzen (Knauf 2009: 280) – auch wenn sie selbst die Frage in der Schulzeit immer wieder verdrängen oder nicht wissen, wie sie die Entscheidungsfindung angehen können.
Jugendliche anregen, sich frühzeitiger und umfassender zu informieren Auch die folgenden Ratschläge junger Erwachsenen vier Jahre nach dem Abitur verdeutlichen: Im Nachhinein hätten sie es bevorzugt, sich (noch) früher und umfassender mit ihrer Berufsorientierung auseinanderzusetzen; auch wenn viele gleichermaßen raten, sich mit der eigentlichen Entscheidung Zeit zu lassen (Knauf/Rosowski 2009).
"Genau informieren, um Enttäuschungen zu vermeiden, sich austauschen mit anderen Menschen, was die darüber denken, was zu einem passt." - "Sich über Fähigkeiten und Interessen klar werden." (Knauf/Rosowski 2009: 317-318)
Neuere Studien zu nachschulischen Ausbildungsplänen von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zeigen, dass Jugendliche zwischen der siebten und elften Klasse diese Frage durchaus ernst nehmen. Eine intensivere Suche nach Informationen ist bei den Jugendlichen zu verzeichnen, die bereits eine gewisse Orientierung haben (vgl. Kracke et al 2013: 160f.).
3. Selbstexploration stärken und BSO-Angebote individualisieren
Umso wichtiger ist es, insbesondere Jugendlichen, die noch keine Vorstellungen über ihre Zukunftspläne haben, Angebote zu machen, damit sie ihre Interessen und Fähigkeiten erkunden können. Mit dem Bewusstsein für ihre Interessen und Stärken fällt es Jugendlichen leichter, selbstständig nach Informationen zu suchen. Der Bedarf an Unterstützung und Information unterscheidet sich, daher ist es ratsam individuelle Angebote zu machen. Aus Sicht von Lehrkräften wie auch der Jugendliche selbst sind z.B. große Informationsveranstaltungen nicht geeignet, um den BO-Prozess zu unterstützen. Dies gilt insbesondere für "orientierungslose" Jugendliche. Als hilfreich empfunden werden individuelle Beratungsangebote und Praktika (Knauf 2009: 242ff.).
Zusammengefasst: Relevanz der OloV-Standards gilt in ähnlicher Weise für Gymnasien
Im Großen und Ganzen sind mit Blick auf Gymnasiastinnen und Gymnasiasten dieselben Kriterien und OloV-Standards von Bedeutung wie bei Jugendlichen anderer Schulformen, dies zeigen u.a. die Studien, auf die in diesem Artikel verwiesen wurde.
Im Folgenden sind zentrale Aspekte bzw. Handlungsfelder und ihr Bezug zu den OloV-Standards benannt:
- Jugendliche frühzeitig zur Auseinandersetzung mit BSO anregen: Nach den OloV-Standards sollte die BSO in der 7. Jahrgangsstufe beginnen, Bezüge hierzu finden sich z.B. in den Standards BO2, BO3 und BO5.
- Selbsterkundung der Jugendlichen fördern – Interessen und Talente aufdecken sowie Selbsteinschätzungsfähigkeit stärken: Eine Kompetenzfeststellung und darauf aufbauend eine individuelle Förderung wird auch für Schülerinnen und Schülern im Bildungsgang Gymnasium geraten (BO3).
- Elternarbeit in der BSO ausbauen: Der Einbezug der Erziehungsberechtigen findet sich im Standard BO9 wieder. Untersuchungen verdeutlichen, dass (gerade) auch bei Gymnasiastinnen und Gymnasiasten Eltern Einfluss auf den BSO-Prozess nehmen. Es ist anzunehmen, dass diese aber insbesondere über neue Entwicklungen in Ausbildungsberufen, dualen Studiengängen sowie zum Bachelor- und Masterstudiensystem wenig Kenntnis besitzen und daher möglicherweise keine kompetenten Ratschläge geben können.
- Vor- und Nachbereitung von BSO-Elementen im Unterricht (fächerübergreifend) intensivieren, insbesondere mit Blick auf Praktika und Veranstaltungen wie Uni-Besuche und Messen (Ausbildung, Duales Studium)
In den OloV-Standards sind die Vor- und Nachbereitung dieser BSO-Elemente in den Standards BO5 und BO7 dargelegt.
Regionales Beispiel: Formulierung von Handlungsbedarfen
Die erste Bedarfserhebung im September 2013 hat für den Schulamtsbezirk Rheingau-Taunus-Kreis und Landeshauptstadt Wiesbaden u.a. die folgenden Handlungsbedarfe aufgezeigt. Diese werden dort in den nächsten Fachzirkeln bearbeitet:
- Rolle der SchuKo: für mehr Handlungssicherheit; die Aufgaben und Erwartungen, die mit der Funktion verbunden sind, diskutieren und klären
- Handlungsgrundlagen: Welche Erwartungen richten sich an Gymnasien - Erlass des Kultusministeriums zum BSO-Prozess sowie die OloV-Standards und die Kriterien des Gütesiegels BSO
- Sensibilisierung: Warum Berufs- und Studienorientierung (BSO) auch in der Sekundarstufe I wichtig ist – Argumente, die auch das Kollegium überzeugen
- Bedeutung von Betriebspraktika in der BSO und notwendige Rahmenbedingungen (z.B. Vor- und Nachbereitung in der Schule) klären und besprechen>/li>
- Beratungsangebote transparent machen: Wie können die Angebote der Agentur für Arbeit sinnvoll in die BSO integriert werden
- Kooperation mit Universitäten: Wie lassen sich die Angebote von Unis optimal nutzen? Was ist der Nutzen von Kooperationsvereinbarungen?
- Übersicht und Austausch sowie Bewertung regionaler Veranstaltungen und Messen im Bereich BSO mit Blick auf Gymnasiastinnen und Gymnasiasten
- Good-Practice-Beispiele einzelner Gymnasien zu ihren BSO-Konzepten
LITERATUR
KNAUF, HELEN (2009): Schule und ihre Angebote zu Berufsorientierung und Lebensplanung – die Perspektive der Lehrer und Schüler. In: Oechsle, Mechtild (Hrsg.): Abitur und was dann? Berufsorientierung und Lebensplanung junger Frauen und Männer und der Einfluss von Schule und Eltern. Wiesbaden: VS Springer. S. 229 – 282.
KNAUF, HELEN/ROSOWSKI, ELKE (2009): Wie tragfähig ist die Studien- und Berufswahl? Biographische Verläufe und Orientierungsprozesse nach dem Abitur. In: Oechsle, Mechtild (Hrsg.): Abitur und was dann? Berufsorientierung und Lebensplanung junger Frauen und Männer und der Einfluss von Schule und Eltern. Wiesbaden: VS Springer. S. 283 – 324.
KRACKE, BÄRBEL/HANY, ERNST/DRIESEL-LANGE, KATJA/SCHINDLER, NICOLA (2013): Studien- und Berufsorientierung von Jugendlichen mit Hochschulzugangsberechtigung. In: Brüggemann, Tim/Rahn, Sylvia (Hrsg.) (2013): Berufsorientierung: Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Münster: Waxmann. S. 159 - 171.
LENZ, BIANCA/NISPEL, ANDREA (2013): Umsetzung der OloV-Qualitätsstandards. Ergebnisse der 9. Befragung der Regionalen Koordinatorinnen und Koordinatoren und Ansprechpersonen Berufsorientierung an den Staatlichen Schulämtern. Offenbach. (unveröffentlichter Bericht)
OECHSLE, MECHTILD (2009): Abitur und was dann? Problemskizze und Forschungsfragen. In: Oechsle, Mechthild (Hrsg.): Abitur und was dann? Berufsorientierung und Lebensplanung junger Frauen und Männer und der Einfluss von Schule und Eltern. Wiesbaden: VS Springer. S. 13 – 21.
VON BRASCH, MONIKA/LENZ, BIANCA/SCHINDLER, SUSANNE/WIEGAND, REGINA (2012): Qualitätsstandards zur Optimierung der lokalen Vermittlungsarbeit im Übergang Schule - Beruf. Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung (Hrsg.). 10. Auflage, Offenbach.