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"Die Jugendlichen sind regelmäßig erstaunt, dass auch in ihrem Wohnort eine wirtschaftliche Vielfalt angesiedelt ist" – BOP in der Jugendwerkstatt Felsberg

Frau Inauen, was sind nach Ihrer Erfahrung die besonderen Herausforderungen für die Berufliche Orientierung im ländlichen Raum?

In einem Flächenkreis hat Berufsorientierung mit allem zu kämpfen, was den ländlichen Raum abseits jeder Idylle ausmacht: Die Wege sind lang, die ÖPNV-Verbindungen sind auf Schulwege und auf den Verkehr in die Mittelzentren ausgelegt, nicht aber auf schnelle Anschlüsse, wenn der Weg mal quer durch den Kreis gehen soll. Das Hessische Schülerticket ist daher selbst für die Schüler/innen, die einen Anspruch darauf haben, in unserem Berufsorientierungsangebot im Schwalm-Eder-Kreis nicht einsetzbar. Es fehlen schlichtweg die Verbindungen. Diese Problematik beschränkt sich nicht nur auf die Werkstatttage selbst, sondern auch auf die anschließend anstehenden Praktika bzw. schließlich die Ausbildung. Für die Werkstatttage löst die Jugendwerkstatt Felsberg dieses Problem, indem sie teure Busunternehmen chartert, die den Transport von der Schule zu uns und zurück sicherstellen. Für Praktika und später die Ausbildung sind die Schüler/innen auf den unzureichend ausgebauten ÖPNV, auf Mitfahrgelegenheiten oder – und das ist ein allzu oft gewählter Lösungsweg – auf Fahrdienste aus der eigenen Familie angewiesen.

BOLD in der Jugendwerkstatt Felsberg

In den zehntägigen BOP-Probierwerkstätten lernen die Schüler/innen der 8. Klassen verschiedene Berufe kennen. Sie erhalten Berufsinformationen und Ausbilderbewertungen. Am Ende werten sie diese Ergebnisse aus.

BOLD (Begleitung der Berufsorientierung im ländlichen Raum durch Digitale Medien) führt sie einen Schritt weiter und begleitet sie bei der Umsetzung ihrer BOP-Ergebnisse, aber auf digitalem Weg. Die Schüler/innen reflektieren nochmal ihre Stärken und Ziele. Sie werden bei der Suche nach einem Praktikumsbetrieb begleitet, bei der Vorbereitung auf das Praktikum und der Auswertung der Praktikumserfahrungen. Die Jugendlichen probieren Berufsinformationsportale und Ausbildungsbörsen aus und recherchieren mögliche Ausbildungsbetriebe. Die duale Ausbildung wird als ein attraktiver Bildungsgang mit Zukunftschancen präsentiert. Lehrkräfte werden über das regionale Ausbildungsangebot und die Durchlässigkeit des Bildungssystems informiert. Auch Eltern können Kontakt zum BOLD-Team aufnehmen und Alternativen zur herkömmlichen Schullaufbahn kennenlernen. Für seine Beratungstätigkeit nutzt BOLD digitale Medien und bietet Einzel- sowie Gruppencoaching an. Für Lehrkräfte sind im Projektverlauf akkreditierte Fortbildungen vorgesehen.

Welche Vorkenntnisse über die Angebotssituation in der Region bringen die Schülerinnen und Schüler mit?

Bei der Suche nach Praktikums- und Ausbildungsplätzen stehen auch wir vor dem Phänomen, dass Schüler/innen bestenfalls die großen Betriebe der Region kennen, aber nicht die Kleinst-, Klein- und mittleren Betriebe in ihrer näheren Umgebung. Das heißt in unserem Fall, dass sie zwar eine Bewerbung an das Baunataler VW-Werk, Mercedes-Benz in Kassel oder an B.Braun in Melsungen ins Auge fassen, aber weniger bekannte Betriebe übersehen- obwohl sie dort nicht nur eine gute Chance auf ein Praktikum, sondern später auch auf einen Ausbildungsplatz hätten. Dieses Phänomen erklärt sich zum Teil mit der Altersgruppe: Die Schüler/innen sind 13 oder 14 Jahre alt, wenn sie zu uns kommen. In diesem Alter haben Kenntnisse über die regionale Wirtschaft und damit auch über den regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt keine Priorität. Ein weiterer Faktor, der zur Erklärung beiträgt, ist das soziale Umfeld außerhalb der Schule: Die großen Unternehmen sind die Hauptarbeitgeber der Region und daher auch bei den Erziehungsberechtigten präsenter als ein Handwerksbetrieb oder kleiner Industriebetrieb zwei Orte weiter. Dieser Faktor ist nicht zu unterschätzen: Immer wieder geben Schüler/innen ihre Eltern als hauptsächliche Informationsquelle in der Berufsorientierung an.

Welchen Ansatz verfolgt die Jugendwerkstatt Felsberg vor diesem Hintergrund?

Wir helfen den Jugendlichen im Rahmen von BOP die Vielfalt der regionalen Wirtschaftsstruktur zu erschließen. Dabei binden wir auch die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten als akzeptierte Ratgeber/innen ein.

Die Schüler/innen lernen Kleinst-, Klein- und mittelgroße Unternehmen spätestens bei der Auswertung der Werkstatttage kennen. Nachdem sie die Feedbacks der Anleiter/innen gesammelt und ausgewertet haben, können sie eine Tendenz für sich feststellen und wissen, wo diese sie sehen: im technischen Bereich, in Bauberufen oder im Dienstleistungsbereich. Es folgen Fachgespräche zu diesen Bereichen, in denen es zum einen um die dafür wichtigen Kompetenzen, zum anderen aber auch um die Vielfalt an Berufen geht. Anschließend recherchieren die Schüler/innen auf digitalem Weg (PC bzw. Tablets) Adressen von Betrieben in ihrer Umgebung, die im angestrebten Bereich (Technik, Bau oder Dienstleistung) aktiv sind. Dabei erlernen die Schüler/innen den Umgang mit Branchenbüchern wie den Gelben Seiten. Die Jugendlichen sind regelmäßig erstaunt, dass auch in ihrem Wohnort eine wirtschaftliche Vielfalt angesiedelt ist. Die Schüler/innen notieren sich die Adressen und können im Idealfall einen ersten Ausflug zu den Webpräsenzen der recherchierten Betriebe unternehmen.

Am Ende der Maßnahme laden wir die Erziehungsberechtigten ein. In einer Präsentation und einem anschließenden Rundgang werden sie auf die Rechercheergebnisse aufmerksam gemacht. Meist lassen sie sich mit erfreulich geringem Aufwand davon überzeugen, dass es sich lohnt, auch diese Betriebe für Praktikum und Ausbildung ins Auge zu fassen.

Wie wichtig ist die Zusammenarbeit im OloV-Netzwerk?

Als BO-Anbieter im ländlichen Raum ist die Jugendwerkstatt Felsberg auf einen direkten und regelmäßigen fachlichen Austausch mit den anderen Akteuren in der Region angewiesen. Dieser bezieht sich nicht nur auf pädagogische und berufsfachliche Inhalte sondern auch auf die wirtschaftlichen und arbeitsmarktlichen Bedingungen vor Ort. Andernfalls würde sich die Wirkung unserer BO lediglich auf die Erkenntnis von Potenzialen und beruflichen Neigungen der Zielgruppe beschränken und schnell verpuffen. Die Ergebnissicherung und -anwendung kann erst gelingen, wenn die Zielgruppe weiß, wie und wo sie ihre Potenziale überhaupt verwerten kann. Durch das OloV-Netzwerk und den damit verbundenen guten Austausch wird das erheblich erleichtert.

Ein weiterer Faktor darf nicht außer Acht gelassen werden: Gerade Flächenkreise wie der Schwalm-Eder-Kreis stehen mit Blick auf den demografischen Wandel vor einer ungünstigen Prognose. In Zusammenarbeit mit den anderen OloV-Akteuren kann die Jugendwerkstatt Felsberg durch eine BO, die diese Prognose im Blick hat, dazu beitragen, Effekte des demografischen Wandels in unserem Kreis abzumildern, indem wir bei den Schüler/inne/n für ihre Perspektiven vor Ort werben. Im Idealfall hat unser BO-Angebot damit langfristige Effekte auf die Region. Die Vernetzung mit den anderen Akteuren unseres regionalen OloV-Netzwerks macht es uns leichter, unser BO-Konzept regionalspezifisch zu formulieren. Daher ist die Kooperation im Netzwerk für uns unverzichtbar.

Frau Inauen, wir danken Ihnen für das Gespräch.

BOP – Berufsorientierungsprogramm des Bundes

In BOP-Angeboten können Schüler/innen der siebten und achten Klassenstufen anknüpfend an die Potenzialanalyse ihre Talente in den Werkstatttagen ausprobieren. Im geschützten Raum der überbetrieblichen Berufsbildungsstätten können die Jugendlichen in Begleitung des Ausbildungspersonals in zehn Tagen in bis zu drei Berufsfeldern aktiv Werkstücke herstellen bzw. Dienstleistungen erbringen. In einem Abschlussgespräch, zu dem auch Lehrkräfte und Eltern eingeladen sind, werden die Potenziale und Talente der Schüler/innen anhand einer Selbst- und Fremdeinschätzung thematisiert und weitere Möglichkeiten der beruflichen Orientierung, beispielsweise Betriebspraktika, besprochen.

Weitere Informationen unter: https://www.berufsorientierungsprogramm.de

Stand: 11.02.2019

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